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Georg Britting
Sämtliche
Werke - Prosa -
Herausgegeben von Georg-Britting-Stiftung
Band 5
Seite 245
Kommentar
Seite 404
Aus: »Erzählungen,
Bilder, Skizzen«
So gibt es zweierlei Ärzte,
solche, die zu trübe machenden Voraussetzungen neigen, und andere,
hoffnungsvollere. Der Mann, von dem hier die Rede ist, geriet an einen
eher schwarz sehenden. Er, der Mann, nicht der Arzt, war ein Liebhaber
des Weins und des Tabaks, und man sagt, auf die Dauer täte das nicht
gut. Er war ein Mann im Trubel der Geschäfte, weit ausgreifende Pläne
schmiedend, Stöße von Briefen auf dem Arbeitstisch, der Fernsprecher
schrillte, und bis in Schlaf und Traum verfolgten ihn seine Abmachungen.
Seine Tröster, wie gesagt, waren der Wein, es durfte auch manchmal
ein scharfer Schnaps sein, und waren die Zigarren - am liebsten rauchte
er Brasilzigarren, schwarz wie Pech, und groß wie ein Baumstamm,
mit herrlich verglühender, schneeweißer Asche. Dann tat ihm
das Herz weh. Seine Brust war geklemmt, als ob Riesenfäuste sie zusammen
drückten, der linke Oberarm schmerzte wie von einem Messerstich -
das ist schon ein schlimmes Zeichen, jeder Herzkranke weiß es. Er
wußte es auch. Eines Abends war ihm ganz elendiglich zu Mute, er
bekam keine Luft mehr, und der kalte Schweiß saß ihm auf der
Stirn. Seine Frau riet ihm, einen Arzt zu fragen, was denn mit ihm los
sei. »Was soll denn los sein?« verwahrte er sich, aber so bänglich
und furchtsam fühlte er sich, und tat also, was die Frau empfohlen.
Der Arzt, ein kahlköpfiger Herr, runzelte die Stirn und untersuchte
ihn, nicht bloß so mit Abklopfen und Abhorchen, er durchleuchtete
ihn mit einem Zauberwerkzeug, und mit einem anderen belauschte er sein
Herz, und der Befund war ziemlich traurig. »Ja«, sagte der
Kahlkopf, und seine goldene Brille blitzte, »in Ihrem Alter eben!«
Der Geschäftsmann war Mitte der Fünfzig. »Mein Lieber«,
fuhr er fort, »schön sieht es nicht aus bei Ihnen. Sie sind
nicht mehr der Jüngste«, sagte er, »das ganze Getriebe
ist eben recht mitgenommen. Stark verbraucht«, sagte er,» nun,
nichts hält ewig, das ist nun einmal so. Sie sollten anfangen, sich
vom Geschäft ein wenig zurückzuziehen« kurz, es war bitter,
was der Geschäftsmann hören mußte. Er ging betroffen nach
Haus, und bedachte, wie kurz das Leben sei, nur ein paar Jahrzehnte, und
er schon verbraucht!
Natürlich rauchte
er an diesem Abend wieder, es schmeckte ihm aber nicht recht, und die Geschäfte,
wie sollte er die lassen? Sie waren das Wichtigste, das glaubt der Mensch
so leicht, und meint, er kann nicht heraus aus ihnen, und was soll denn
dann das Leben überhaupt? So ging es eine Zeitlang, aber ihm war wie
einer Forelle, die man aus dem Bach auf den Kies geworfen hat - sie springt,
und schlägt um sich, und Staub wirbelt um sie und nicht das grüne
Wasser. Seine Frau sah es mit an, und sagte: »Eines Mannes Rede ist
keines Mannes Rede«, und sagte: »Geh doch zu einem andern Arzt,
was der meint.« Klug sind die Frauen, und er ging zu einem andern
Arzt. Der nun beklopfte und behorchte ihn auch, und bediente sich auch
der zauberischen Geräte, die der alte Hippokrates, der Vater der Ärzte,
noch nicht zur Verfügung gehabt hatte, seinem hilflosen Jahrhundert
gemäß, aber die Menschen starben damals wie heut. Dieser zweite
Arzt war ein gemütlicher Arzt, es so auszudrücken. »Ach!«
, sagte er, »ein Schaden ist da, aber wer ist ohne Schaden? Ein bißchen
weniger zu rauchen empfehl ich, und müssen es denn immer die dicken,
schwarzen sein? Nun, ob blond oder schwarz, weniger halt! Im übrigen«,
so sprach er weiter, »ich liege sozusagen im gleichen Lazarett mit
Ihnen! Worüber Sie zu klagen haben, ist ein Übel, das mich auch
plagt! Wir wollen uns nicht einschüchtern lassen, und die Flinte ins
Korn werfen! Ich gebe jedem von uns noch zwanzig Jahre! Wollen Sie länger
leben? Fünfundsiebzig zu werden«, sagte er, »das genügt
doch? Oder, was meinen Sie?« Der tief und selig aufatmende Geschäftsmann
meinte das gleiche. Er nahm den Fernsprecher nicht weniger oft zur Hand
hinfort, die Schreibmaschinen klapperten, ein neues, großes Geschäft
tat sich eben auf, leuchtend und viel versprechend, wie die Morgenröte,
und daneben ein anderes schon, und die Forelle war wieder im grünen
Wasser und tänzelte und jagte. Nach vier Wochen solle er wieder zu
ihm kommen, hatte der lustige, selber herzkranke Arzt gesagt, der ihm das
Leben neu geschenkt. Er kam wieder, und ein Dienstmädchen öffnete
ihm die Tür, und sagte: »Sie wissen es noch nicht? Der Herr
Doktor ist vor einer Woche plötzlich gestorben.« Und Tränen
standen in ihren hellblauen Augen.
Da kann man nun Verschiedenes
denken über schwarzseherische und zuversichtliche Ärzte. Der
Geschäftsmann dachte Verschiedenes. Er ging, von seiner Frau gedrängt,
zu einem dritten und vierten Arzt, und zu einem berühmten Professor
gar, und einmal auf ein Vierteljahr in eine Heilanstalt. Zu guter Letzt
versuchte er es mit einem Kurpfuscher, der in seinem Hauptberuf Schafe
hütete, draußen, am Rand der Stadt. Der behandelte ihn mit Lehmpackungen,
und das war seine Rettung - das glaubte der Geschäftsmann steif und
fest, der inzwischen, die Ärzte ständig wechselnd, schon die
Siebzig überschritten hatte, immer noch rauchend, und Schnaps und
Wein nicht verschmähend, und seine Frau war ihm schon längst
gestorberz. Ziemlich pünktlich dann mit fünfundsiebzig Jahren
segnete er ganz unerwartet das Zeitliche, wie ihm das schon jener frühverblichene,
lustige Arzt vorausgesagt hatte. Wer lang krank ist, lebt lang, lautet
ein alter Spruch, dessen Wahrheit sich hier wieder einmal erwies.
Anhang
S. 238 Tausend Rehe
E: Münchner Tagebuch 3, Nr.
36,11.9.1948, S. 5.
Am 30.7. 1949 schrieb Britting
an Jung: tausend rehe lasen sie also in der braunschw zeitung? sie gehören
zu den kleinen arbeiten die ich honorarswegen zu schreiben gezwungen bin.
ich bestrebe mich immer, sie so zu machen, daß ich mich ihrer nicht
zu genieren brauche. man müßte auch bei solchem anlaß
kleine kunstwerke zu machen imstande sein.
Am 6. 8.1949 kommt Britting nochmals
auf die »Tausend Rehe« zurück: tausend rehe stand jetzt
auch im rhein. merkur. damit ist ein dutzend der abdrucke jetzt voll. wenn
ich ein durchschnittshonorar von 50 m rechne, sind das 6oo für die
drei schreibmaschinenseiten. das ist schließlich nicht übel,
aber die rumschickerei ist ekelhaft.
D1: Stuttgarter Zeitung, Nr. 153,
6.7.1957.
D2: Christ und Welt, Nr. 36, 3.9.1959.
D3: Anfang und Ende, S. 104.
S. 241 Der Grasgarten
E: MünchnerTagebuch 3, Nr.
16,24.4. 1948.
D1: Deutsche Erzähler der
Gegenwart. Hg. Willi Fehse, Stuttgart: Reclam, 1959 (Universal-Bibliothek
Nr. 8262->5/65a), S. 90, u. d. T Nur der Schein trügt nicht.
D2: Christ und Welt, Nr. 38, 15.9.
1960, u. d. T Die mißratenen Söhne. U. d. T. Nur der Schein
trügt nicht wurde der Text noch mehrfach veröffentlicht.
D3: Anfang und Ende, S. 92.
S. 245 Die kluge Frau
E: Stuttgarter Nachrichten, 4.
6.1949, u. d. T Wie es euch gefällt.
D1: Süddeutsche Zeitung, Nr.
207, B. 9.1950.
D2: Lahrer Hinkender Bote. Neuer
historischer Kalender für den Bürger und Landmann auf das Jahr
1955. 155. Jg., S. 52-54, u.d.T Wer lang krank ist, lebt lang. Mit Zeichnungen
von Hanna Nagel.
D3: Stuttgarter Zeitung, Nr. 34,9.2.1957,
u. d. T .Wer lang krank ist, lebt lang.
Der,Text wurde noch mehrfach auch
u. d. T Der Geschäftsmann und der Tod veröffentlicht.
Druckvorlage:Typoskript im Nachlaß.
S. 248 Taubenfedern
E: Süddeutsche Zeitung, Nr.
108, 7.5.1955.
Diese Fassung enthält einen
ersten Abschnitt, der in anderen Abdrucken fehlt: Das war im Lehel, der
alten Münchner Sankt-Anna-Vorstadt, im Mai, die Kastanien blühten
schon, jung und weiß und rot, und der Brunnen bei der Anna-Kirche
rauschte, wie er es zu jeder Stunde tut, bei Tag und auch bei Nacht, wenn
ihm niemand zuhört: das kümmert ihn gar nicht.
D1: Christ und Welt, 20. 6. 1957.
Mit einer Illustration von Albrecht Appelhans.
D2: Anfang und Ende, S. ioo.
S. 255 Trinksitten
E: Rheinischer Merkur, 11.2.1950,
u. d. T Auf einen Zug.
Am 11. März 195 schreibt Britting
an Alex Wetzlar nach London:
lieber alexius, ich habe eine kleine prosaarbeit geschrieben, wie ich es manchmal tu, für zeitungen geeignet, des lieben mammons willen, sie heißt ›auf einen zug‹ und manchmal auch ›trinksitten‹, und du kommst auch drin vor, wenn auch nicht namentlich. sie erschien u. a. auch im ›rhein.merkur‹. dort entdeckte sie ein mister quinn, übersetzte sie, und er will sie in wine and food publizieren. er schickte mir ein heft, das den untertitel trägt ›a gastronomical quarterly‹, sieht recht ordentlich aus, gespickt natürlich mit viel schnaps-und weininseraten [...] ein Organ für feinschmecker offenbar. du sollst dir aber keine nummer kaufen, oder nur die, in der die übersetzung stehen wird. brief und übersetzung lege ich dir bei. ich brauch sie nicht zurück. wie der mann übersetzt, kann ich nicht beurteilen, ziemlich frei scheints, denn im original beginnt es »ich habe einen guten freund, der lebt jetzt nicht mehr in deutschland, der lebt jetzt in england« - sieh an, was er draus gemacht hat. ist aber ziemlich wurscht. ich habe mister quinn geschrieben, das allenfalls auf mich treffende honorar dir zu schicken, dann kaufst du dir von der riesensumme ein glas wiski, und trinkst es in einem zug auf mein wohl.Wetzlar hatte wohl angefragt, wer die Personen in dieser »kleinen Prosa« seien. Dazu Britting am 15.4. 195o handschriftlich:
hier hast du die winzige Nebensächlichkeit, und nur weil du es gewünscht hast! Der Dichter ist Weinheber, der englische Freund du, der Verleger ist Hanser. Eine sozusagen wahre Begebenheit.Der Text wurde noch mehrfach u.d.T. Trinksitten veröffentlicht.